Er stand am Grab seines Vaters. Die goldene Oktobersonne hing schon tief und trieb ihre Strahlen
durch die umstehenden Baumstämme und das sich langsam entlaubende Geäst. Die Erinnerungen an das
Jahr 1958 wurden wieder lebendig. Der graugrüne Basalt-Grabstein ragte fast schwarz, aus dem hellen Steingeviert.
Die Inschrift war so nicht zu entziffern, aber er wusste, unter dem Namen des Vaters war auch der seiner Mutter eingemeißelt.
Sie hatte ihn vierzig Jahre überlebt, und er selbst hatte das Glück, schon fast zwanzig Jahre länger leben zu dürfen als sein Vater,
ohne Krieg, ohne Gefängnis. Damals hatte er sich die Frage gestellt: ob er denn einen Vater gehabt habe? Gekannt hatte er ihn kaum.
Jetzt wusste er, er hatte einen Vater. Dessen Leben war auch zu seinem geworden. Das kurze Glück und der lange Leidensweg hatten ihn
über die Jahre verfolgt und bewegt, waren ihm erst jetzt lebendig geworden. Ebenso die Frage, ob andere Einflüsse und Entscheidungen die Tragödie hätten abwenden können. Er hatte die Trauer seiner Mutter miterlebt. Als Fünfzehnjähriger. Er summte plötzlich, autistisch, lehnte
sich zurück,
„Ein Engel, Leonoren, der Gattin so gleich, der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich.ˮ Die in die Höhe drängende
Melodie konnte einem die Tränen in die Augen treiben. Die Arie hatte er immer singen wollen. Jede Fidelio Aufführung assoziierte ihm den
unschuldig eingekerkerten Vater und die um ihn kämpfende Mutter.
Die Sonne war jetzt nach rechts abgeglitten, das verblassende Gegenlicht
ließ Bäume und Gräber nicht mehr als Schattenrist erscheinen. Am Ende der vorderen Reihe, an der sich ein Stück Wiese anschloss, war
eine Grube für ein neues Grab ausgehoben worden, mit grünen Plastikmatten abgedeckt, und mit einem weißroten Band eingefriedet.
Die Wiese schien in Bewegung. Es wieselte aufgeregt hin und her. Kaninchen hoppelten unter Gebüschen hervor, machten Männchen und
mümmelten an Wurzeln und Stauden. Eines der Tiere, robbte sich mit jedem Hopser an die Kunstrasenmatten heran, schien den Rand dieser komischen Wiese zu beschnuppern, fand wohl Gefallen an dem ungewohnt prickelnden Gefühl unter den Pfoten und wagte sich weiter vor.
Wäre er aufgestanden, es wäre sicherlich auf bekanntes Terrain zurückgehoppelt. So tappte es neugierig weiter, fast bis zur Mitte, war aber
mit einem Mal von der Grünfläche verschwunden. Spontan dachte er, es konnte nur in die Grube gefallen sein, stand auf und suchte nach einer
Erklärung. Es waren zwei große Matten, die mittels der Eisenstangen wie mit Heringen flach über die Grube gespannt waren, sich in der Mitte
jedoch locker überlappten, und da musste das Tierchen hindurchgekullert sein. Er sah sich um, niemand war zu sehen, eine Leiter lag neben der
Grube, er könnte also hineinklettern.
Er wollte es wissen, zog zwei der Eisenstangen aus dem Erdreich, klappte die so gelösten Rasenmatten
zurück und suchte den Boden der Grube ab. Da saß es tatsächlich.
Entschlossen nahm er das Tierchen mit der linken Hand in den Karnickelgriff
– es schlug mit den Hinterläufen verzweifelt ins Leere –, erklomm unsicher die Leiter, und setzte das Bündel vor sich auf die Rasenkante.
Den Bruchteil einer Sekunde, die Nasen nur Zentimeter entfernt, schauten sie sich an. dann war es in langen Sätzen im Dunkel des Gebüschs
verschwunden. Lächelnd stieg er weiter die Leiter empor. Hätte man die Grube nicht mit diesen Plastikmatten bedeckt, ... das Kaninchen wäre
   niemals da hineingefallen. Es kennt Rasenkanten und Abgründe, würde also an solchen instinktiv kehrtmachen. Aber einen
     Kunstrasen kannte es nicht. Er freute sich, dass er das kleine Kerlchen hatte retten können und nahm den Weg zum Ausgang.
       War er in seinem Leben auch unwissend und nichts ahnend in solche Fallen getappt? Hatte auch er Gefahren nicht erkannt,
          ja nicht erkennen können? Vor der Drehtür am Ausgang hielt er inne. – Er hatte das Glück, nicht in eine so schlimme Zeit hinein-
             geboren worden zu sein. Nur noch die Nachwehen dieser Kriege hatte er miterleben müssen und diese dazu in einer kindlichen
                Unbedarftheit und Neugier. Er zwängte sich durch das Drehgitter. Die nur schwer zu bewegende Eisenachse ächzte auf.
                  So musste sich das Krächzen der Angeln der Zellentüren in den korrodierten Zapfen angehört haben.
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