Die Wahrheit bedeutet Schuld

Leseproben

 Spielzeit 1960/61    (Seiten 1-19)

   
Gelöst,
und doch, wie es schien, immer etwas überstürzt, sprang er die drei Stufen in das kleine Vor-Foyer. Der Pförtner erhob sich mit einer devot knappen Verbeugung.
„Auf Wiedersehen Maestro, bis morgen!“
„Ja, Servus, mein Lieber!“ Seine Hand wedelte locker einen Gruß aus dem Gelenk durch das Sprechloch in der Scheibe der Pförtnerloge und, die Hand sofort zurückziehend, huschte er durch die halb offenste-hende Tür nach rechts, die Außenstufen hinab. Die Probe war bestens verlaufen. Morgen würde die Hauptprobe folgen. Die Sänger waren sehr gut, und die Orchestermusiker hatten alles so gespielt, wie er es ihnen in den letzten sieben Proben eingetrichtert hatte. Er war kein guter Dirigent, das wusste er, und es schmerzte, wenn er sich schon mal, nicht richtig konzentriert, bei einem Taktwechsel verschlug. Man muss selbst als Künstler seine Schwächen kennen, tröstete er sich dann immer wieder. Und deshalb probte er auch sehr intensiv und penibel nach der Devise, es müsse auch ohne ihn gehen. Er bekam auch bei jeder Produktion seine acht Orchesterproben. Die hatte er vertraglich festschreiben lassen, wogegen der erste Kapellmeister bei seinen Produktionen nur sechs bekam. Deswegen war der auch bei den Musikern beliebt. Er nicht so, auch das wusste er. Weil der nicht so viel probierte, der verschenkte oft
die letzte Viertelstunde. Und dazu dirigierte der noch auswendig. Das würde er nie zustande bringen.
Er musste sich rote Pfeile und Merkzeichen in die Partitur einfügen, um bei den schwierigen Passagen besonders konzentriert zu sein. So liefen zwar seine Vorstellungen und Konzerte meist ab wie ein Uhrwerk, aber spontane, individuelle und spannungsreiche Momente, die das Publikum mitreißen konnten, waren bei ihm kaum zu erleben. Doch seiner Meinung nach wurden Dirigenten sowieso über-bewertet. Stand man vor einem guten Orchester, war man gut, stand man vor einem schlechten, war man schlecht. So einfach war das. Und dieser ganze Kult mit Maestro,
Generalmusikdirektor. All das hatte etwas Militärisches, forderte Disziplin, Zucht und Härte. Aber es gefiel ihm. Auch dass sie jetzt alle Maestro zu ihm sagten. Er wusste nicht, wer das eingeführt hatte. In Italien wurden die Pultstars seit jeher so betitelt, aber in der DDR war das nicht üblich.
Ja, Italien, grübelte er, dahin werde ich nie kommen.
Bernd Weise hieß sein Stellvertreter und 1. Kapellmeister, auf den er eifersüchtig sein musste.
Es kursierte ein Witz hinter seinem Rücken. Einmal, bei einem Pausengeflüster, hatte er das Getuschel mitbekommen, aber nicht direkt einordnen können.
„Was singt unser Maestro, wenn er morgens aufwacht?“
„Gott lass mich Weise sein!“ Dieses Wortspiel war bei der letzten Lohengrin-Produktion entstanden,

die er herausgebracht und Bernd Weise mit großem Erfolg nachdirigiert hatte. Bei seiner nächsten Vorstellung, er glaubte,
die Lustlosigkeit der Musiker förmlich zu spüren, wäre ihm fast der Taktstock aus der Hand gefallen, als der Sänger des König Heinrich vor der Beschwörung des Gottesgerichtes die analoge Passage sang, original von Wagner so geschrieben. »Gott, lass mich Weise sein!«
Dieser Bernd Weise! Er ärgerte sich, er wollte nicht Bernd Weise sein. Jetzt bog er in die Seestraße ein, die Schloss und Theater trennte. Plötzlich lief er schneller. Na ja, dachte er, es ist ja kein schlechter Gag. Humor muss man halt haben. Hatte er auch, glaubte er. Aber wenn es an die eigene Haut geht? Trotz allem fühlte er sich an diesem Haus wohl. Ein wunderbarer Theaterbau, der italienischen Renaissance nachempfunden. 1886, nach einem Brand neu errichtet, war es seinerzeit das fortschrittlichste Theater der Welt. Es gab, damals nach modernsten Erkenntnissen gebaut, sogar eine Beleuchtungsanlage mit elektrischem Licht. Im Krieg war es nicht zerstört worden, und so konnten hier schon Ende Mai
1945 wieder Opern- und Schauspielaufführungen stattfinden. Inzwischen zählte das Haus zu den bedeutend-sten Theatern der DDR. Oft unternahm er für sich allein Exkursionen durch die Unterbühne, besichtigte den Schnürboden, ließ sich von den Bühnenarbeitern die Funktionen erklären und vorführen und stieg sogar in einen der vier Türme, in denen früher das Wasser für die Sprinkleranlage gespeichert war. Das begeisterte ihn regelmäßig. Für ihn war es erhebend, in einem künstlerisch so wertvollen Gebäude musi-zieren zu dürfen, und wenn er abends, zu Beginn der Vorstellung sich verbeugend, vom Dirigentenpult aus in den herrlich gestalteten Zuschauerraum schaute, verflogen alle Psychosen und Schwächen. An der Ampel stieß er mit Ulf zusammen. Ulf Vogel-Kraus, der Bariton, den er engagiert hatte, und der heute wieder hervorragend gesungen hatte. Aber das wollte er ihm nicht sagen. Zuviel Lob wirkte kumpelhaft, weicht Respekt auf, verwischt die Positionen, meinte er. Also sagte er beiläufig, indem er wartend, das Rotlicht fest im Blick, von einem Fuß auf den anderen trat: „Sie haben ja heute sogar das hohe G am Schluss gut gekriegt und das morgens um elf!“ „Ja, finden Sie, Maestro?“, brachte Ulf unsicher hervor. „Und Frank hat auch endlich mal nicht geschmissen.“ „Frank schmeißt doch nie“, rief Ulf dem Maestro hinterher, der wohl noch bei Rot losgelaufen war und jetzt in der ersten Querstraße verschwand.
Ja, Frank, dachte der Maestro, der froh war, Ulf abgehängt zu haben, ein kecker, fast frecher Kerl.
Auch den hatte er engagiert, als Anfänger. Jetzt sang der den Raimondo, eigentlich noch zu jung, aber doch sehr gut. Seine Züge lockerten sich, er ging jetzt wieder langsamer.
Dieser Frank, er hieß eigentlich Joachim, und wie weiter? Er wusste es gar nicht mehr genau. Seine erste Partie war der Gefängnisdirek-tor Frank in der Fledermaus gewesen, mit vierundzwanzig. Seitdem hieß er Frank. Die Silvesterpremiere im letzten Jahr, Die Fledermaus war Chefsache, die musste er dirigieren. Aber für ihn war es ganz unmöglich gewesen, einen Anfänger mit einer solchen Partie zu betrauen. Das hatte er abgelehnt. Intendant und Oberspielleiter, der zudem die Inszenierung besorgte, hatten sich durchgesetzt. Es sei nicht das tatsächliche Alter des Darstellers ausschlaggebend, wichtig sei, dass der einen älteren Charakter spielen und sich in diesen hineinversetzten könne. Jetzt lächelte der Maestro. Er hatte immer die größte Freude gehabt, wenn Frank im 3. Akt als Gefängnisdirektor, vom Fest des Prinzen Orlofsky kommend, nach der durchzechten Nacht in sein Gefängnisbüro hineintorkelte. Dazu spielte er einen herrlich besoffenen Kauz mit grauer Perücke und Bart, der tapernd seinen Zylinder auf die Ablage balancierte, musikalisch genau auf den Akkord. Darauf fiel er gekonnt über eine Bank, so glaubhaft angeheitert,
dass sich Leute aus dem Publikum, die Stück und Rolle wohl nicht ganz begriffen hatten,
später im Betriebsbüro meldeten, es wäre doch bedenklich, wenn so junge, talentierte Sänger sich während einer Vorstellung so betränken, dass sie der Länge nach auf der Bühne hinschlügen. Warum hatte er Frank noch nie gesagt, wie zufrieden er mit ihm war? Der hatte seine anfängliche Ablehnung doch mitbe-kommen. Doch der strotzte nur so vor Selbstsicherheit. Beneidenswert, dachte er, wobei ihm seine fehlende wieder schmerzlich bewusst wurde. Er hatte sich schuldig gemacht. Das zerstörte seine Selbstachtung und beeinträchtigte seine künstlerische Entfaltung. Gerade heute wieder, bei der Probe. Den Schlusston der Arie von Ulf hatte er wie einen überhallten Glockenschwall erlebt, auf den wie ein Blitzschlag die Bilder seiner Erinnerung prallten. Das Orchester hatte das folgende Accelerando wie geprobt ohne ihn weitergespielt, sodass sein Abschlag nur noch verspätet ins Leere erfolgte.
Seine Mine wurde hart, sein Schritt wieder hastend, gleich würde seine Frau mit höhnischer Ironie,

wie er glaubte, fragen: „Na, hast du wieder mal wunderbar dirigiert?“ Aber eigentlich interessierte sie
sich gar nicht dafür. Sie lebte ihr Leben, er das seine. Sie als Sängerin in Leipzig, er als Dirigent hier. Immerhin war sie für drei Tage hergekommen, um die Premiere von Lucia di Lammermoor zu erleben. Aber was war das für eine Ehe, fragte er sich immer öfter.

                                                                                   *


Der Bariton Ulf Vogel-Kraus war heute mit seiner Leistung nicht zufrieden. Müde und ausgelaugt hatte er sich nach sechs Wochen Regie-Proben zu der letzten Orchesterprobe vor der Premiere geschleppt. Die letzten Tage der auszehrenden Probenzeit waren immer die schlimmsten. Er sang den Enrico zum ersten Mal, und diese Premiere von Lucia di Lammermoor sollte so etwas wie sein Durchbruch an diesem Haus werden. Er hatte Frank vor der Probe sein Leid geklagt, er würde sicher den Schlusston der Arie nur markieren, und der Maestro würde hinterher bestimmt wieder meckern, bei seinen Proben dürfe nicht markiert werden. „Ich kann ihn ja für dich singen“, hatte Frank gefrotzelt. Und dann, auf der Bühne, war Ulf der unverhoffte Schock in die Glieder gefahren. Die Arie hatte er gut gesungen, kam zum Ende, fieberte, sollte er den Schlusston singen? Das hohe G? In der aufsteigenden Phrase setzte er den Ton an, er wollte es riskieren, und plötzlich erschlug ihn ein fast strahlendes G aus dem rückwärtigen Bühnen-raum. Frank, der als Raimondo zuhörend auf der Bühne stehen musste, hatte sich einfach nach hinten gedreht und das hohe G gegen die Kulissenwand geschmettert. Aus dem Stand konnte er das, aber als Bassist hätte er die Arie nie singen können. Hinterher, in der Garderobe hatte Ulf ihn wütend angebrüllt: „Du Arsch! Wie kannst du so was machen?“ „War doch lustig“, hatte Frank erwidert und versucht, ihn zu umarmen. Sie waren eigentlich befreundet. Panisch hatte Ulf nach der Probe das Theater verlassen. „Aber der Chef hat´s doch gar nicht bemerkt“, sagte er laut, immer noch an der Ampel stehend. Der musste das doch gehört haben? Ulf wollte nur noch nach Hause, musste ausspannen, sich hinlegen. Morgen bei der Hauptprobe, das war wichtig, musste er die Partie voll aussingen, musste seine Kraft genau einteilen, musste Reserven ausloten, musste, musste ... Ja, als Sänger musste man immer am oberen Limit Leistung bringen. Die Stimme musste funktionieren, man musste sie ständig trainieren, musste Erkältungen oder Überbeanspruchungen vermeiden, dazu musste man die jeweilige Partie gut gelernt und präsent haben, und doch konnte man nie sicher sein, dass man bei der Vorstellung tatsächlich das erreichte, was der Ehrgeiz letztlich vorgab. Es war erneut das Selbstmitleid, das sein Selbstwertgefühl wieder einmal auf den Nullpunkt brachte. Nein, er war nicht stark genug für diesen Beruf, und doch wollte er nichts anderes als singen. Elfi empfing ihn wie üblich: „Na, hast du schön gesungen?“
„Ach, frag´ nicht.“ „Wieso? Was war denn?“ „Ach, Frank,
dieses dreiste Arschloch!“ Das Deklamieren des Wortes erleichterte ihn. „Du meinst Joachim? Was hat der denn wieder angestellt?“ Und er erzählte. Elfi empörte sich lachend: „Dieser Stimmprotz, keine Kultur, nur Fortissimo! Das sieht dem ähnlich.“
Elfi war eine bildschöne Frau mit dunklem, fast schwarzem fülligen Haar, quirlig blauen Augen und einer wunderbaren weichen Stimme. Natürlich auch Sängerin. Sie hatten in Berlin zusammen studiert. Ulf privat und sie an der Hanns-Eisler-Hochschule.
Seit einem Jahr waren sie verheiratet, und sie hatte, um ihm dieses Engagement hier zu ermöglichen, selbst auf ein Festengagement verzichtet.
Bei der Fledermaus-Produktion hatte sie als
Gast die Adele gesungen. Ulf sang den Dr. Falke und Joachim eben den Frank. Zu Beginn der Proben war sie mit ihm in den Clinch geraten. Sie hatte geglaubt, er mache sie an, da er sie bei den Proben zum zweiten Akt immer zu einem engen und temperament-vollen Walzer zwang, bis sie bemerkte, dass er in jeder Phase seiner Rolle eine ausgeprägte Präsenz entwickelte. In der Folge hatte sich dann ein spannendes Zusammenspiel ergeben, obwohl er ihr doch zu ungestüm blieb. Mit Ulf hatte sich die Freundschaft ergeben. Frank fand Ulf als Sänger ganz großartig. Zwar war er ihm viel zu bedächtig und sensibel, aber Ulf hatte eine beachtliche Bühnenpräsenz. Er war ja quasi ein Quereinsteiger. Hatte nur privat Gesangsunterricht genommen und sein Repertoire mit einem Repetitor eingepaukt. Wogegen Frank ein normales sechsjähriges Musikstudium inklusive Gesang, Klavier und Opernschule absolviert hatte. Von besonderem Interesse war für ihn die Tatsache, dass Ulf aus dem Westen kam und stammte. In Herne sei er geboren, hatte er Frank erzählt, und zusammen mit seinem Bruder habe er dort zunächst das von den Eltern geerbte Hotel mit Restauration und Bar betrieben. Sein Hang zur klassischen Musik und zum Gesang sei allgemein belächelt worden. Auch bei seiner ersten Ehefrau gab es kaum Verständnis für seinen Wunsch, Opernsänger zu werden. Er war nach Berlin gegangen, um bei Paul Neuhaus, einem renommierten Gesangspädagogen, mit dem Gesangsunter-richt zu beginnen mit dem Ziel, an der Hanns-Eisler-Hochschule angenommen zu werden. Das verwei-gerte man ihm jedoch zum wiederholten Male. Doch mit eisernem Willen biss er sich durch, hielt sich mit Kellnern und Gelegenheitsjobs über Wasser. Darüber war zwangsläufig seine erste Ehe zerbrochen.
Bei Engagements an kleineren
Theatern hatte er sich bereits bewährt. „Und warum hast du hier im Osten dieses Engagement angenommen und nicht im Westen?“, hatte Frank ihn gefragt. Er würde sofort in den Westen gehen, wenn es sich ergäbe. Er kannte jedoch Ulfs Grund: Elfi stammte von hier, sie war hier geboren und außerdem, hatte Ulf gemeint, sei es hier doch wunderschön mit dem herrlichen Theater, der Erholung verheißenden Seenplatte und der nahen Ostsee. Er gedenke aber doch, wenn sein Vertrag nach zwei Jahren auslaufe, wieder in den Westen, nach Hause, zurückzugehen. Elfi würde bestimmt mitgehen, und dort hätten sie möglicherweise bessere Chancen, in ein gemeinsames festes Engagement zu kommen.


                                                                                *

Fließendes Strömen, die Dunkelheit durchdringend, nichts sehend, nur noch Musik fühlend, in herrlichen Klängen, Sinne betörend, zu schwebender Leichtigkeit. Dahinbrausend in dem Rausch der vorbeifliegen-den Welt. Jubelnde Hände, aufwallendes Bravo. Er, der Maestro, frisch gekürt, der Vertrag, unterschrie-ben von Bonzen. Großartiges verheißend, der ersehnte Posten, General der Musik, für Musiker, für Sänger, Autorität, Direktor, Chef, Institution. Unbändige Genugtuung. Schneller brausend, singend, rasend, alles vergessend, im Lichtkegel etwas erfassend, etwas Schmales, Kleineres. Der Aufschrei des Entsetzens, hin und her geworfen von einer magischen Wucht. Ersterbende Klänge verschlingen das grelle Licht, abreißende Rhythmen, rinnende Wärme auf Wange und Brust, reißender Schmerz an Schulter und Arm. „He, he, was ist denn wieder los?“ Gerti erschien über ihm. „Hast du wieder deine Albträume? Du solltest vielleicht mal zu einem Therapeuten gehen.“ Er wälzte sich zentnerschwer.
„Du musst endlich über deine Probleme sprechen. Du hast doch welche, das spüre ich. Wenn nicht mit mir, dann mit jemandem, der dir helfen kann.“ Sie fiel auf ihre Matratze zurück und drehte sich unwirsch zur Seite, um weiterzuschlafen. Er fühlte sich miserabel, richtete sich mühsam auf, saß auf der Bettkante. Träumte so ein Maestro, ein Chef, ein General über Musik und Musiker? Die Arbeit der letzten Wochen hatte ihn glauben lassen, er könnte diese Katastrophe überwinden. Lange blieb seine Erinnerung im Ungefähren, aber jetzt war alles wieder aufgebrochen. Schon gestern bei der Probe, bei diesem verdammten Schlusston, den dieser wankelmütige Sänger noch nie so strahlend über die Rampe gebracht hatte. Doch plötzlich bezweifelte
er, dass der den Ton überhaupt gesungen hatte. Sein Unterbewusstes musste ihm diesen Streich gespielt haben. Der hatte doch den Kopf nach hinten gedreht.
„Quatsch“, sagte er, „der hat das doch auf der Pfanne!“ „Wer hat was auf der Pfanne?“, fragte sie in das Kissen. „Is schon gut, ich muss mich jetzt fertigmachen.“ Er schlurfte ins Bad und schloss die Tür. Ja, er hätte Gerti schon damals alles sagen sollen. Aber was hätte er ihr sagen können? Er wusste selbst nur Vages. Und sie war in Leipzig gewesen,
hatte Proben gehabt, konnte nicht weg, während er im Kranken-haus lag und nichts mehr wusste. Seine Ehe war halt nur noch eine Vernunftehe. Und als sie ihn dann besuchte, hatten sie ihm schon geraten, gar nichts mehr zu sagen. Was war wirklich passiert, damals vor zwei Jahren, nach der Vertragsunterzeichnung? Er steckte den Kopf unter den sprudelnden Wasserhahn. Seine Kopfhaut prickelte in dem kalten Strahl wie von tausend kleinen Nadeln gepiesackt. Minutenlang harrte er aus. Ja, was wusste er? Er war in einem Krankenhaus zu sich gekommen. Zwei Männer standen an seinem Bett. Sie sprachen leise miteinander, ohne zu bemerken, dass er schon zuhörte.
„Wir müssen das unter den Teppich kehren. Wenn die Sache publik wird,
ist seine Karriere zu Ende, und wir müssen jemand anderen finden und aufbauen.“ Der Andere legte den Finger auf die Lippen.
Sie fixierten ihn. Nach einer Weile der
Stille hatte er sich dann bemerkbar gemacht. „Wir freuen uns sehr, verehrter Maestro, dass Sie wieder unter den Lebenden sind“, sagte der Ältere, „Sie haben ganz schön was abbekommen.“ Er war noch sehr benommen, jede Bewegung schmerzte, ließ die beiden reden, glaubte, es sei besser so. „Geht´s denn einigermaßen?“, fragte der Andere. „Schmerzen“, stöhnte er etwas gequält. Jetzt setzte sich der Ältere auf die Bettkante, legte seine Hand auf den Bezug und begann beschwichtigend: „Können Sie uns sagen, was gestern Abend passiert ist?“ Er versuchte, den Kopf zu schütteln. „Sie haben keinerlei Erinnerung?“ Er wusste nur noch, dass er nach Hause fahren wollte.
„Ja, damals konnte ich mich wirklich an gar nichts weiter erinnern“, sagte er zu dem, den er im Spiegel sah, indem er scheinbar beiden den Haarschopf frottierte. Er betrachtete dabei das Spiel seiner Armmus-keln. Ich muss wieder trainieren, dachte er, dirigieren setzt auch körperliche Fitness voraus. Er bürstete das Haar glatt. Ihm gefiel, was er sah, ein markantes, braun gebranntes Gesicht, welchem zwei leuchten-de Augen diese zwingende Ausstrahlung gaben, die seine technischen Defizite als Dirigent wettmachten. Aber an was erinnerte er sich tatsächlich? Er hatte auf Anstellung dieses Konzert dirigiert, in diesem wunderbaren Haus. Beethovens Siebte, davor die Coriolan-Ouvertüre. Die Orchesterplattform war hochgefahren worden, das Orchester auf der Bühne platziert. Es war ein Riesenerfolg mit begeisterten Rufen:
»Bravo Maestro! Bravi tutti!« Ob die bestellt waren?, fragte er sich auch jetzt wieder. Solche Beifallsrufe waren eigentlich in der DDR verpönt. Aber das war nun wirklich egal. Danach ging es ins Intendantenbüro zur Vertragsunterzeichnung. Der eine, der damals an seinem Bett saß, war auch dabei, wie er später feststellte. Sektkelche wurden gereicht, und er wurde, gerade mal 38, als jüngster General-musikdirektor der DDR beglückwünscht. Musiker und Publikum waren ins Foyer geladen und bei seinem Erscheinen brandeten die Ovationen neu auf. Hände wurden geschüttelt, Lobes- und Gratulationshymnen »gesungen«. Und dann, es war spät in der Nacht, war er mit seinem Moskwitsch nach Hause gefahren. Die rauschende, fröhliche Fahrt durch die klare Nacht, die Leichtigkeit, die er empfand, mit der der Wagen über die dunkle Straße glitt. Alleebäume flogen vorbei. Das war seine Erinnerung, die aber jäh abbrach und der er vergeblich nachsann. Sie hatten gesagt, sie würden sich um alles kümmern. Er müsse Stillschweigen bewahren, dürfe mit niemandem darüber reden, seine Karriere sei sonst abrupt zu Ende, und all ihre Bemühungen seien vergebens gewesen.Welche Bemühungen? Die Frage stellte sich jedes Mal neu. Hatten sie irgendwie an allem gedreht? Er glaubte immer häufiger, irgendwelche Trenchcoatträger unter breiten Hutkrempen verborgen zu erspähen, die zufällig vor Schaufenstern standen, umherspazier-ten oder gar im Zuschauerraum saßen.Vielleicht saßen sie heute wieder in den hinteren Reihen. Er musste sie einfach ignorieren, wie sollte er sonst seinen Kopf freibekommen? Er streifte seinen Mantel über, nahm die Partitur, die musste er stets bei sich haben – am Abend hatte er noch einige Stellen eingekreist, etliche Auftakte waren ihm nicht präzise genug gewesen –, frühstücken werde ich in der Kantine, dachte er, öffnete die Schlafzimmertür und rief beiläufig, die Klinke in der Hand: „Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung, wir sehen uns heute Nachmittag.“

 
     Ferien (Seiten 240 bis 256)

Der Maestro hatte Rita nicht dirigiert, war aber zur letzten Vorstellung gekommen. Ulf war wieder einmal der Star des Abends gewesen, seine Extempores wurden beklatscht, und dem Maestro war das Vergnügen anzusehen, als er ihn in der Garderobe beglückwünschte. Danach saßen sie noch zusammen, Elfi war natürlich auch dabei, und sie besprachen sich. Die erste Juli- und Ferienwoche begann kühl und regnerisch, aber Ulf wollte die Zeit nutzen und sofort loslegen. Mit Franz´ Hilfe hatte er einen leicht zusammensteckbaren Trailer gebaut, den Motor zum ersten Mal wieder aufgebockt. Er fand eine größere Wanne, in die er, gefüllt mit Wasser, den Motorschaft samt Schraube versenken konnte. Nach einigen Versuchen war der Motor doch angesprungen, und ein längeres Durchlaufen auf dem Bock bestätigte seine Funktionstüchtigkeit. Am folgenden Mittwoch trafen sie sich am Pinnower See, einer fast gänzlich von Wald umschlossenen Oase der Ruhe. Es gab lediglich einen kaum frequentierten Strand, der wie geschaffen war, um das Boot erstmals außerhalb des Wohnzimmers aufzubauen. Ulf hatte alles in seinen Wagen gestapelt, die Packtaschen ersetzten den Rücksitz, und obenauf lag der Motor. Hier musste er seine Ladung noch nicht verbergen, denn am Pinnower See sein Boot aufzubauen, war relativ unver-dächtig. Den Fußraum vor dem Beifahrersitz mussten sich Elfis Füße, der Tank für das Sprit-Gemisch und die kleineren Utensilien teilen. Sie fuhren über einen Waldweg relativ nah an den Strand heran. Ulf schaute bedenklich in die aufziehenden Wolken, aber nass zu werden gehörte für ihn zum Bestandteil des Trainings. Allerdings war die wetterfeste Bekleidung beim Packen zu Hause liegengeblieben. Nur seinen Anorak, den er für die Flügelschrauben benötigte, und der quasi zum Boot gehörte, hatte er übergewor-fen. Der Maestro staunte nicht schlecht, wie flink Elfi und Ulf zu Werke gingen. Er half beim Ausladen des Motors und der Packsäcke. Das Aufbauen des Bootes bewältigten sie dann fast in Bestzeit.
 
Im Dämmerschein des Mondes würde sich jedoch der Rekord nicht halten lassen. Jetzt kam auch zum ersten Mal der Trailer zum Einsatz, erwies sich vielleicht als etwas zu instabil, aber Ulf meinte, man brauche ihn ja nur einmal, und je leichter er sei, desto einfacher sei auch der Umgang damit. Ulf rollte Trailer und Boot ins Wasser, stieß das Boot mit dem Fuß ab, es löste sich. In der linken Hand die Leine, zog er mit der rechten den Trailer zurück und holte das Boot längsseits. „Hier ist es von Vorteil“, meinte Ulf, „dass die Uferkante direkt zehn, zwanzig Zentimeter abfällt. Der Ostseestrand verläuft seicht ins Wasser, da bekommen wir halt nasse Füße.“ Gerade wollte er den Motor, den der Maestro ihm entge-genschleppte, packen und einhängen, als mit einem plötzlichen Krachen ein Platzregen einsetzte, der sie zunächst einmal zu den Autos trieb, und zwar in den Moskwitsch, da ja im VW keine Rückbank vorhan-den war. Die prallen Tropfen, die sich, von Böen getrieben, zusehends in Hagelkörner verwandelten, prasselten auf das Wagendach, malträtierten die Windschutzscheibe, rüttelten an den Blechen, sodass Elfi, nur mit einem dünnen Sommerfähnchen bekleidet, sich auf der Rückbank zusammenkauerte und pitschnass jammerte:
  „Wir versauen dem Maestro doch die schönen Sitze!“ Der betätigte jetzt die Scheibenwischer, und schemenhaft sahen sie, wie das Boot, vom Wind hin und her getrieben, sich scheinbar vom Ufer entfernte. „Das Boot!“, rief Ulf, hatte die Wagentür schon wieder zugeknallt, stapfte jetzt, sich gegen den aufpeitschenden Sturm stemmend, in Schräglage über den durchtränkten Sand, wobei Hosenbeine, Jacke und Haare, von den Böen zerzaust, in die entgegengesetzte Richtung strebten. Elfi war an den fliegenden Holländer erinnert. Ulf hatte in der Eile lediglich den Motor auf das Seil gelegt, das jetzt durch den aufgeweichten Sand schneller darunter wegglitt. Sein Fuß tappte auf das Ende, und zum Glück gelang es ihm, die letzten fünfzig Zentimeter um sein Handgelenk zu schlingen, sodass er das Boot auf den Strand ziehen konnte, ohne dass ihm das nasse Ende nicht doch noch durch die Finger geflutscht wäre. Hagelkörner trommelten frontal auf Stirn und Wagen, seine Lider blieben nur um Millimeter geöffnet, um den Augen noch soviel Raum zu lassen, die Uferkante, den glitschigen Strand doch wahrnehmen zu können. Es war für ihn nicht mehr vorstellbar, wie sich ein trockenes Hemd auf der Haut anfühlte. Inzwischen war der Maestro zum Kofferraum geeilt, fischte nach der Regenhaut, stand jetzt neben Ulf, die Stechpaddel in den Händen und brüllte gegen die Böen: „Ich hätte nicht übel Lust, das Boot jetzt unter diesen Bedingungen zu testen!“ „Bist du verrückt?“ Aber spontan hatte sich Ulf ein Paddel geschnappt, stieg in das aufgewühlte Wasser und schrie: „Nasser können wir nicht mehr werden.“ Er zog das Boot in die Wellen. „Los, halt es hier fest!“ Der Maestro hielt es längs, Ulf stemmte sich dagegen. „Jetzt leg den Motor rein! Langsam, pass auf, es ist glatt, sonst sitzt du gleich auf dem Hintern!“ „Jetzt den Tank!“ Er hatte beides ins Boot balanciert, stieg bedächtig hinterher, die Paddel bereit. Ulf drehte es gegen den Wind, stieß sich vom Ufer ab, hechtete bäuchlings auf das Heck und kroch vorsichtig die Balance suchend zum Maestro, der schon mit kräftigen Schlägen auf der Leeseite den Bug in den Wind trieb. Ulf unterstützte ihn jetzt, mal Luv, mal Lee, so entkamen sie der vom Ufer aufgeworfenen Brandung. Auf einem Knie, jeder an seiner Seite, schlugen sie die Paddel in die Gischt, stießen bei jedem Schlag ein ächzendes Brüllen aus, dass man hätte meinen können, wenn die zerrenden Böen die Schreie nicht augenblicklich fortgerissen hätten, zwei entflohene Galeerensklaven würden sich in die Freiheit rudern. Sie ließen nicht nach, keuchten und schwitzten, sodass sich die äußere Nässe mit der von innen heraustreibenden zu einem prickelnden Erschauern vereinte. Beide wähnten sich auf der Ostsee. Mit Kurs Nordwest glaubten sie, auf das Feuerschiff direkt zuzusteuern. Sie würden rudern, immer weiter, Stunde um Stunde, nie und nimmer müde werden, das große Ziel vor den Augen, die Freiheit! Aber sie wurden müde, hatten das dafür Notwendige nicht trainiert, wie in einem Kanadier-Boot hockend kraftvoll und ausdauernd das Paddel zu stechen. Erschlafft und erschöpft setzten sie sich gleichzeitig schnaufend auf den Trittboden und ließen sich treiben. Hagel und Regen hatten nachgelassen,  selbst der Wind schien ein Einsehen zu haben. Ulf atmete tief: „Ich kann nicht mehr. Wir werden den Motor einhängen, und dann brettern wir mit voller Kraft zurück!“ Der Motor lief prächtig und ließ sie über den See kreisen, und sie glaubten, ihre Freiheit schon zu erleben. Plötzlich fiel ihm Elfi ein. „Verdammt, wir haben Elfi allein gelassen.“ Er wusste sofort, dass er das nicht hätte tun sollen.
Elfi hockte immer noch auf dem Rücksitz, die beiden waren ja gerade mal zehn Minuten weg. Das Wetter heulte weiter um das Auto, bog die Bäume. Es war dämmrig, fast dunkel. Sie glaubte, die Nacht wäre bereits hereingebrochen. Und plötzlich ergriff sie Panik. Wo waren die? Ließen sie hier einfach alleine. Sie zitterte, vor Angst? Vor Kälte? Wieder rüttelte eine heftige Böe am Wagen. Sie glaubte sich auf hoher See, im Boot, auf der Flucht, allein von Wasser, Regen und Dunkelheit umgeben. Tränen schossen ihr in die Augen. Nein, sie würde das nicht mitmachen. Sie wollte nicht mehr. Waren all die Strapazen, die Gefahren zu rechtfertigen für eine vermeintliche Freiheit, von der sie nicht wusste, was sie ihr bringen würde? Wenn sie in einen solchen Sturm, in ein derartiges Unwetter kämen, sie würden jämmerlich ersaufen. Nein, nein! Sie sprang aus dem Auto. Der Wind erfasste sie hart. Ihr Kleid umflat-terte sie, wie eine nasse Fahne, klatschte ihr um die Beine. Sie tapste am Auto entlang, sah plötzlich die Kofferraumhaube, die der Sturm aufgerissen hatte, wollte sie schließen. Sie drohte umzuschlagen. Da, ein Mantel, vom Maestro. Sie zog ihn heraus, zwängte sich hinein, obwohl er viel zu groß war. Der Wind blähte ihn auf wie ein Segel, sie fand nicht den Ärmel. Zunächst nur in einem, krachte sie den Deckel ins Schloss, drehte sich, bis ihr eine neue Böe das andere Ärmelloch zuwehte. Sie schaute zum Wasser, sah nichts und niemanden, rutschte schrittweise über den schmierigen Sand, sank ein, schlidderte in eine Vertiefung und saß unversehens im Matsch. Das Wetter schien sich etwas beruhigt zu haben, sie aber holte es jetzt vollends ein. Ihre Tränen waren nicht mehr zu stoppen. Trotzdem suchte sie das Wasser ab, doch Tränen, Dunst und Regen ergaben eine graue, undurchdringliche Wand. Verzweifelt vergrub sie ihr Gesicht zwischen den Knien, die Arme wie schützend über dem Kopf verschränkt und schluchzte sich die Seele aus dem Leib. Urplötzlich hörte sie das Motorgeräusch. Sie rappelte sich hoch, sah, wie das Boot in rasender Fahrt auf sie und das Ufer zuhielt. Sie glaubte, überfahren zu werden, rutschte erneut in den Schlamm. Das Boot schwenkte nach Backbord und stoppte längsseits am Ufer. Eine Welle schwappte über den Sand. Der Maestro sprang heraus, stand bis über die Knie im Wasser, Ulf turnte hinterher ans rettende Ufer, und gemeinsam hievten sie das Boot auf den Strand. Er hastet fast auf allen Vieren zu dem Knäuel, das er sofort ausgemacht hatte. Elfi! Was war passiert? Sie lag da, zusammenge-rollt, apathisch in der Nässe, in einen verschmierten Mantel gehüllt, den er nicht kannte. Er versuchte sie aufzunehmen, rutschte aus, es regnete immer noch, er nahm es kaum wahr: „Elfi! Elfi, was ist mit dir? Komm, ich bin da!“ Auf den Armen balancierend trug er sie zu den Autos, fühlte durch den nassen Mantel das Beben ihres ermatteten Körpers. Der Maestro kam dazu, half ihm, sie auf dem weicheren Waldboden abzulegen: „Klaus, warte, sie muss ins Auto!“ Er eilte zu seinem Wagen, legte die Persenning auf den Sitz, die Decke, in der der Motor eingewickelt war, darüber. Egal, die war wenigsten trocken, stolperte zurück, befreite sie behutsam aus diesem sie nicht mehr schützenden Mantel, nahm sie hoch, tappte zum Auto, bettete sie auf den Sitz und schlang die Decke um sie. Sie schlug die Augen auf und stammelte: „Ulf, wo warst du?“ Ihr Körper durchzuckte ein plötzlicher Schüttelfrost, der sich fast auf Ulf übertrug. Was hatte er angerichtet? Wie konnte er sich so vergessen, sich in diesem Rausch verlieren?„Klaus, bitte, ich muss sie sofort nach Hause fahren.“ Er hatte die Beifahrertür zugedrückt. „Kannst du hier warten? Bitte. Ich kann gleich erst das Boot einpacken, in einer Stunde oder so, bin ich wieder zurück. Sie kann nicht länger hierbleiben. Sie wird mir krank, wenn sie es nicht schon ist!“ Er war mit dem letzten Satz ins Auto gesprungen, wendete auf dem Waldboden und brauste davon. Die Reifen trommelten auf das Pflaster. Es war der Rausch, der jetzt wie ein Film vor ihm ablief. Wie sie im Taumel die Paddel in das Wasser stießen, auf den See hinaus ruderten, sich erschöpft beglückwünschten, einen Hauch der Freiheit zu erleben, zu der das Boot ihnen verhelfen würde. Der Motor war sofort angesprun-gen. Mit Vollgas drehten sie Runde um Runde, verloren die Orientierung. Regen vernebelte alles, aber die gelungene Fahrt ließ alle Zweifel an ihrem Vorhaben schwinden. „Wie auf der Ostsee!“, hatte Klaus gebrüllt. Dann war ihm Elfi eingefallen. Elfi! Er schaute zur Seite. Sie war auf dem Sitz zusammen-gesunken, schien zu schlafen, ihre Hände zitterten leicht. Er glaubte sich wieder im Nebel des Unwetters, obwohl jetzt die Sonnenstrahlen bemüht waren, die aufgerissenen Wolken zu durchdringen. Pflaster und Straße verschwammen, die Schleier seiner Augen entsprachen denen der Windschutzscheibe. Er stoppte, sprang aus dem Wagen, säuberte mit seinem nassen Taschentuch die verschlierte Scheibe. Wenn sie ihm krank würde! Seine Hand lag jetzt auf der kratzigen Decke. Sie regte sich nicht. Wie lange hatte sie da gelegen, wie lange waren sie auf dem See gewesen? Er schaute auf seine Uhr, die war stehengeblieben. Klar, die war doch gar nicht wasserdicht, war genauso durchnässt wie er. Erst jetzt spürte er, dass er quasi im Wasser saß. Seine Kleidung triefte noch immer, klebte kalt auf der Haut, und der Sitz war zu einem Schwamm mutiert. Aber er spürte weder Nässe noch Kälte. Die pulsierende Sorge trieb ihm den Schweiß auf die nasse Stirn. Wenn sie ernstlich krank würde, er musste ihre Mutter unterrichten, bevor er zum Boot und zu Klaus zurückkehren konnte. Eine Lungenentzündung! Hatte sie sich eine eingehan-delt? Das war die Frage, die ihm sofort, durch den Kopf geschossen war.

Der Maestro war auf den Waldboden gesunken, sah das Boot am Strand, das ihm ein neues Leben versprach. Damit würden sie es schaffen. Eine bessere Möglichkeit würde sich ihm nie wieder bieten. Was war das für ein Gefühl gewesen, auf dem Wasser dahinzugleiten, der Freiheit entgegen. Die Wolken rissen auf, verstohlen lugte die Sonne hindurch, nur noch ein leichter Niesel brach sich in den Strahlen. Über dem Wasser bildeten sich schmale Nebelschwaden, die der abflauende Wind mal in die eine, mal in die andere Richtung drängte. Hoffentlich hatte sich Elfi nichts Ernstes geholt. Eigentlich war er schuld, dass sie diese Spritztour unternommen hatten. Wäre er nicht mit den Paddeln da aufgetaucht, Ulf wäre in den Moskwitsch zurückgekehrt, und sie hätten zusammen auf besseres Wetter gewartet. Das zog jetzt auf, besser gesagt, das schlechte zog ab, und erst jetzt fröstelte ihn. Im Auto musste er noch eine trockene Jacke haben. Er war viel in der Natur unterwegs, da waren Reserveklamotten stets hilfreich. Der Mantel, der jetzt wie ein ausgedientes Fell zwischen den Bäumen lag, den hatte er ewig nicht mehr gebraucht, der war ehemals für ganz kalte Tage gedacht. So nass und verschmiert war es um den nicht schade. Aber vielleicht hatte der Elfi vor dem Schlimmsten bewahrt. Er entledigte sich schnell der nassen Sachen. Plötzlich brannte die Sonne von einem blau aufgerissenen Stück Himmel herunter, sodass er, nackt wie er war, sich wie ein aufgestellter Spießbraten bescheinen ließ, langsam drehend, die Wärme genießend, bis eine neue Wolkenwand das Blau in das gewesene Grau zurückverwandelte. Er fand sogar noch eine platt gedrückte Hose im Kofferraum, und so spazierte er neu eingekleidet unschlüssig den Waldweg auf und ab. Eine Stunde, hatte Ulf gesagt, wenn er das schaffte. Es mochte 16, 17 Uhr sein. Eine Uhr hatte er nicht, er hatte ja Ferien. Abrupt blieb er stehen, sah das Boot. Ja, er würde jetzt hinausfahren, auf dem See seine Runden drehen, solange der Sprit reichte. Er kannte sich inzwischen ja mit allem aus, schob behutsam das Boot ins Wasser, legte es längsseits und schaffte es sogar hinein, ohne nasse Füße zu kriegen. Mit dem Paddel stieß er sich vom Ufer, tat ein paar Schläge, tauchte die Schraube ein, riss an dem Starterseil, gab Gas, und ab ging die Fahrt. Sein Geist flog plötzlich auf.  Melodien durchdrangen ihn, von Aida bis zum Fliegenden Holländer, von Boccherini über Mozart bis zu Richard Strauß. Er sang, was er sonst nie tat, die ihm in den Sinn kommenden Melodien, mit dem Motor im Wettstreit, wobei er glaubte, das Knattern des Motors sei wohlklingender als sein krächzendes Schmettern. Aber er schwelgte in den so noch nie erlebten Gefühlen von unendlicher Weite und grenzenloser Freiheit.

Ulf hetzt die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal. Mutter. Hoffentlich sind die da! Er schellt Sturm. Aber wo sollten sie denn sein? Noch mal. Er hält den Knopf gedrückt. „Ja, ja, ich komm ja schon.“ Gott sei Dank, sie ist da. Der Schlüssel dreht sich, die anderen klappern gegen das Holz der Tür. „Was is denn los? Ach du bist´s!“ „Mutter, ja, ich. Tach,“ sein Atem rasselt, „hast du Zeit, kannst du kommen? Elfi ...“ Er fällt auf die Stufe. „Was ist mit Elfi? Ist was passiert?“ „Ja ... wir sind gekentert!“ Sie weiß von dem Boot, sonst weiß sie nichts. Er fürchtet, sich übergeben zu müssen, ringt nach Luft. „Sie ist stark unter-kühlt, sitzt im Auto.“ „Um Gottes Willen!“ Er rappelt sich hoch. „Komm, bitte.“ „Ja, ich zieh mir schnell was über“, sie ruft: „Fritz, ich geh zu Elfi. Weiß nicht, wann ich zurück bin!“ Sie stolpern nach unten. Die Scheibe ist heruntergekurbelt. „Elfi, um Gottes Willen! Was ist passiert?“ Sie langt ins Auto, legt die Hände um ihre Wangen. Ihr Kopf liegt schlaff dazwischen. „Sie hat Fieber!“ Besorgt legt sie den Hand-rücken auf ihre Stirn. „Komm, Mutter, ich fahr jetzt. Sie muss schnell ins Bett. Die Rückbank ist nicht drin, du bist ja in zehn Minuten bei uns.“ Die Autotür schlägt zu. „Ja, fahr`, ich komm nach.“ Er saust los. Nur noch fünf Minuten. „Elfi, he, bleib wach, bitte, wir sind gleich zu Hause!“ Sie wendet ihm den Kopf zu, langsam, versucht zu lächeln. Die Knie drohen einzuknicken, noch eine Etage. Die Decke war im Auto geblieben. Sie war nicht schwer, ihm war schwer. Was hatte er angerichtet? Er stellt sie auf die Füße, fest an sich gepresst, die freie Hand sucht den Schlüssel. Verdammt, in der anderen Tasche. Er windet sich, hält sie jetzt mit dem linken Arm, findet den Schlüssel. Die Tür klemmt. Er zieht, dreht den Schlüssel, schlägt mit dem Fuß dagegen, endlich. Auf das Sofa, ins Wohnzimmer. Ihr Kleid, ihr Haar, alles nass, nasser Sand, überall. Egal, das Boot bringt uns hier raus, wir brauchen kein Sofa mehr. Das Wasser läuft ein, heiß, es dauert, er hilft ihr aus dem Kleid, dem Hemd, dem Höschen, trägt sie zur Wanne. Zu heiß! Kaltes dazu, zuerst die Füße, langsam, sie rutscht hinein. Wärme dringt ein, in die Poren, die Haut, belebt. Sie schaut dankbar. Mehr Wasser, es steigt, bedeckt jetzt den herrlichen Körper. Er streichelt die Wange. Elfi, Geliebte. Ich richte das Bett. Er geht, zieht sich schnell um. Es schellt. Er springt in die trockene Hose. Mutter! Er öffnet, holt ein Badetuch, noch eins, eins ins Bett. Mutter, gut, dass du da bist, ich muss noch das Boot holen,   muss es wieder auseinanderbauen, bringe sie gleich ins Bett. Was kann ich sonst noch tun? Ich koch´ eine kräftige Fleischbrühe, geh nur, geh, und ich mach Wadenwickel. Er sitzt auf dem Wannenrand, hält ihre Hand. Danke Ulf. Wofür? Dass ich dich so im Matsch hab´ liegenlassen. Warum bist du nicht im Auto geblieben? Er hilft ihr auf, hebt sie heraus. Perlen umspielen ihre Haut, kullern herab, glitzern, bedrängen ihn. Er muss einwickeln, was er so gerne ..., frottiert, trägt sie zu Bett, packt sie in das zweite trockene Tuch, drapiert das Deckbett darüber, sitzt auf der Bettkante. Sie lächelt müde, zittert noch schwach. Es geht schon viel besser. Danke Ulf. Wofür? Die Augen finden zu neuem Glanz. Er weicht aus, wischt mit dem Handgelenk über seine, geht in die Küche. Ich hab´ ihr ein´n Tee gemacht. Ja ... sie geht zu ihr, er zum Fenster, der Hof verschwimmt. „Was ist denn hier los, nur noch das Sofa in der Ecke, wollt ihr umziehen? Und der Tisch im Schlafzimmer?“
„Ja, Mutter, ich erklär´s dir später.“Er drückt die kleine Scheibengardine beiseite, der Hof bleibt ver-schwommen. Ich darf, ich werde nichts tun, was ihr schaden könnte. Eine Freiheit ohne Elfi wäre absolut nichts wert.

Der Motor tuckerte, der Gaszug, nur halb gezogen, drosselte die Spritzufuhr. Er wünschte sich, die Fahrt würde nie enden, er müsste nie mehr an einer Küste anlanden. Das Wasser, der See, das ferne Ufer, hoch und grün ragten weit weg die Bäume auf. Es hatte etwas Jenseitiges. Keine Schuld, keine Wahrheit. Nur dieses Idyll der Harmonie umgab ihn, geformt von einer Wetterlage, die sich inzwischen in den wunderbarsten Farben präsentierte, als gehörten peitschende Schauer, tobende Sturmböen und eisige Hagelkörner so gar nicht zu ihrem Repertoire. Und doch, er musste zurück, musste zu Ulf, wusste nicht, wie lange der Sprit noch reichen würde. Also schaute er sich um. Wo war der kleine Strand? Im Osten, hatte Ulf vorhin gesagt. Die Sonne stand bereits tief im Westen. Da, in dem Westen, wo er hin wollte. Aber hier auf dem See musste er sich wieder nach Osten orientieren, würde den Strandstreifen erst spät erkennen. Vielleicht wartete Ulf schon ungeduldig.
Er saß am Ufer, auf der zusammengefalteten Persenning, die Füße im Wasser. Die Kühle tat gut. Er stierte auf das Hin und Her der Wellen, sah kaum das andere Ufer. Vielleicht dort? In den glitzernden, nur noch leicht bewegten Wogen fand er das schmale Boot, wie es verschwand und bald wieder auftauchte, kleiner und größer wurde. Die ihn blendende Sonne ließ es auf dem farbigen Wasser wie eine Fata Morgana tanzen. Langsam kam es auf ihn zu. Er freute sich für Klaus, dass der hier nicht nur herumge-sessen hatte, dass er hinausgefahren war. Bekam so das Boot gut in den Griff. Das war wichtig.
  Aber wenn Elfi jetzt den Mut verlöre, sie gar krank würde? Sollte er es trotz allem wagen?
Wieder verschwamm alles um ihn, wie eben am Küchenfenster. Er war halt eine Mimose, nicht Herr seiner Emotionen, konnte sich plötzlich nicht mehr vorstellen, dieses irre Projekt weiter voranzutreiben. Er stand auf, der Sand war an der Oberfläche bereits wieder trocken, sodass er schon mal die Persenning ausbreiten konnte. Die Einzelteile, die Bootshaut konnten nur trocken und ohne Schlamm- oder Sand-rückstände verstaut werden. Zu Hause erst würden sich die Packsäcke dann so bestücken lassen, dass das erneute Aufbauen wieder in dem eingeübten  Ablauf und Tempo vonstattengehen konnte. Aber dafür musste seine Energie neu aktiviert werden.
 
Der Maestro hatte Gas gegeben, hatte den kleinen Strand, umgeben von Bäumen, erspäht und hielt jetzt direkt darauf zu. Der Wind ließ für Ulf das Aufheulen des Motors anschwellen. Er saß auf der Gras-narbe, die Füße immer noch im Wasser. „Gratuliere!“, rief er ihm zu, als Klaus längs des Ufers den Motor noch einmal aufdrehte, um den Vorwärtsschub zu stoppen. „Du bist ja schon ein richtiger Seebär geworden.“ „Ja. Ich frage mich, warum ich mir nicht schon lange so ein Gefährt zugelegt habe. Dieses Gefühl von Freiheit, einfach auf dem Wasser umherzuschippern, ist nicht zu beschreiben.“
Er war herausgesprungen, und beide hievten jetzt das Boot auf den Trailer und beides aus dem Wasser. Ulf holte einige Lappen aus dem Auto und begann das Boot in seine Einzelteile zu zerlegen, wobei er Klaus bat, die Spanten, Stäbe und Senten trockenzureiben und in die Packsäcke zu stecken. Damit würden sie die nächste Stunde beschäftigt sein. Sie redeten kaum, jeder hing seinen Gedanken nach, der Maestro munter und euphorisch, Ulf müde und niedergeschlagen. Er musste zu Elfi,
musste ihr beistehen.

„Ihr seid doch nicht ganz bei Trost. Was müsst ihr bei dem Wetter mit dem Boot rausfahren? Ihr habt doch sechs Wochen Ferien, also wirklich genug Zeit, und Bootfahren macht doch nur bei schönem Wetter Spaß. Oder gibt’s da noch was, was du mir nicht sagen willst?“ Das Thermometer zeigte 39,2 Grad. Zweimal schon hatte sie das Quecksilber heruntergeschlagen. Ein Anstieg zeigte sich kontinuierlich. Jetzt nahm sie mehrere Küchenhandtücher aus dem Schrank, tränkte abwechselnd eines mit kaltem Wasser, umwickelte die heißen Waden, bis die Kühle der Nässe, von der Wärme aufgesogen, ihre Wirkung verlor. Sie sprach weiter und wiederholte dabei die Prozeduren.
„So verbissen, wie Ulf mit dem Boot umgeht. Wieso übt ihr im Wohnzimmer das Aufbauen, räumt alles beiseite? Nur noch das Sofa steht da ... Er erklärt´s mir später, hat er gesagt. Was gibt’s da zu erklären? Ich kann´s ja verstehen, aber das ist doch irre! Mit einem Boot über die Ostsee ... viel Fantasie brauch ich da nicht, wenn man mit ansieht, was ihr hier treibt. Wann und wie wollt ihr denn starten? Du willst es mir nicht sagen, weil du Angst hast. Meinst, ich würde dich abhalten wollen ... Nein, nein. Vater wird das nicht verstehen, aber der wird auch gar nichts bemerken, bis ihr weg seid. Geh du ruhig mit deinem Ulf, er ist ein prima Kerl. Vater hat für den nicht viel übrig ..., und ich denke, ihr könnt beide im Westen besser Karriere machen. Vielleicht musst du da nicht ständig Rücksicht auf ihn nehmen ... Ich würde an eurer Stelle auch machen, dass ich hier wegkomme, ... aber Vater glaubt immer noch, im besseren Deutschland zu leben. Wir hätten nach dem Krieg gleich rübermachen sollen. Doch er, ja, die bauen hier einen sozialen Staat auf, hat er gesagt. Das hat er geglaubt und glaubt es vielleicht immer noch. Kuck dir doch an, was die mit uns machen, sag ich ihm immer, mauern uns ein. Wir können Frieda und Bert in Osnabrück nicht besuchen, müssten extra einen Antrag stellen, der sowieso abgelehnt wird. Und mein Bruder in Köln. Wir müssen uns schützen gegen diese Imperialisten, gegen die kapitalistische Welt, sagt er. Der weiß selbst nicht, was das ist.“
Elfi war froh, nichts sagen zu müssen, hielt die Augen geschlossen und hörte zu, fühlte, wie ihre Lebens-geister zurückkehrten. Sie wollte es ihnen immer sagen, nicht einfach so verschwinden. Ja, sie hatte Angst, ihre Mutter würde sie bitten zu bleiben, sie hier nicht allein zurückzulassen. Vater, der war in der Partei, glaubte immer noch an den real existierenden Sozialismus. Es würde ihn hart treffen. Seit Silvester war er nicht mehr im Theater gewesen, seit dem Eklat bei der Fledermaus. »Herr Direktor, wir sind eingemauert!« Böse hatte er Ulf zur Rede gestellt, wie er denn so etwas Provozierendes von der Bühne verkünden könnte. Die von der Brigadeleitung hätten ihn gefragt, was er jetzt unternehmen wollte, ob er sich nicht für seinen Schwiegersohn schämen würde. Er hätte die Genossen, zwar unbeherrscht, aber nicht unberechtigt angefahren, ob man denn, genau wie bei den Nazis, plötzlich die Sippenhaft wieder eingeführt hätte, und was zum Teufel sie denn die Äußerungen seines Schwiegersohnes angingen?
Die Kollegen würden ihn jetzt schneiden. Die Planerfüllung käme wegen des fehlenden Zusammenhaltes in Gefahr. „Elfilein! Geht es dir besser?“ Sie fühlte die Hand auf der Stirn und öffnete die Augen. Sie würde es ihr nicht sagen, hatte ihr ja auch gar nicht zugehört. Aber sie hatte Elfi Mut gemacht, und sie würde weiter mit Ulf durch dick und dünn gehen.

Sie hatten alles zurückgepackt, saßen am Waldrand und betrachteten den jetzt fast spiegelglatten See. Die Sonne war abgetaucht, leichte Röte verriet, wo. Die Luft wurde kühler, und über dem Wasser stieg fadenscheiniger Nebel auf. Klaus war wegen Elfi ein wenig bedrückt. Aber Ulf meinte, man müsste ihr ein, zwei Wochen Zeit zur Erholung geben. Er könnte sich unterdessen mit Wetter und Gezeiten, Mond-phasen und dem Entstehen verschiedenartiger Winde auf dem Meer befassen, wie sich zum Beispiel das Boot bei höherem Wellengang verhalten würde, und wie man richtigerweise gegensteuerte. Er hätte einige Bücher, die er ihm gleich geben könnte. Ansonsten wäre er ja mit dem Boot schon bestens vertraut, sodass sie sich gut ergänzen würden. Somit wäre es ja für alle nur von Vorteil, ihn als dritten Mann mit im Boot und an Bord zu haben. „Am besten, du fährst jetzt zu deiner Elfi.  Ich bleib hier noch ein wenig sitzen, vielleicht gehe ich sogar noch schwimmen. Auf mich wartet ohnehin niemand, und die Bücher hole ich mir in der nächsten Woche mal.“ Ulf fuhr aus dem Waldstück heraus. Es tat ihm leid, Klaus so allein an dem See zurücklassen zu müssen.
                                                    

        Abschiedskonzert (Seiten 317 bis 338)

Sie hatten ihre Plätze in der zehnten Reihe. Der Maestro gab sein Abschiedskonzert. So hatte er es bei den Proben in der zurückliegenden Woche für sich empfunden. Je näher das Wochenende kam, desto prickelnder und erregender verliefen für ihn die Tage. Tage, die mit den Proben für die 1. Sinfonie von Johannes Brahms ausgefüllt waren. Er lebte diese Musik, einmal mit ihren peitschenden Streicherakkorden, dann wieder mit den ruhig dahinfließenden Melodien. Das ganze Werk war so in seinem Innersten verhaftet, dass er darüber nachdachte, es auswendig zu dirigieren. Um frei zu sein für die schwelgenden Motive, die dramatischen Ausbrüche, die ihm jäh die tosenden Wasser assoziierten, in sich zusammenbrechende Wellen, dann wieder leicht dahinwogende, vom Wind gekräuselte Ströme, im Mondlicht glitzernde Wasser, die endlose Weiten versprachen, mit jeder aufwallenden Melodie die lockende Freiheit! Er lief in seiner Garderobe auf und ab, noch zehn Minuten, blieb vor dem Spiegel stehen, Frack, Kummerbund und Fliege saßen perfekt, ließ den Taktstock durch die Finger gleiten. Mit und in dieser Musik würde er die wabernden Wasser der Ostsee durchpflügen. Das Auf und Ab seines Lebens mit dem des Bootes hinter sich lassen. Die auf die quälende Dramatik immer wieder folgende Pein seiner Schuld sollte heute Nacht in der Unendlichkeit des Meeres untergehen. Ein neues Leben in Freiheit lag vor ihm, würde über den Weiten der Ostsee sichtbar werden. Solche hoffnungsvollen Bilder hatte die Dynamik der Sinfonie während der Proben in ihm stetig geformt.
Ulf hielt Elfi den Klappsitz herunter, sie strich den Rock glatt und ließ sich fallen. Würde es auch ihr Abschiedskonzert werden? Sie schaute ihn an und bemerkte seine Unruhe. »Das Hoch wird über das Wochenende halten«, klang es aus der Muschel, krächzend, aber beruhigend, und es blieb ihm im Ohr. Er hatte auf die angemeldete Verbindung wieder fast eine halbe Stunde warten müssen. Die Menschen standen vor den Schaltern Schlange, um Telefongespräche anzumelden, entgegenzunehmen, Briefe oder Pakete aufzugeben. Schlangestehen und Warten waren Übungen, die jeder DDR-Bürger in Geduld ertrug. Das Schifffahrtsamt in Rostock war sich sicher. Das Wetter war insgesamt noch einmal sommer-lich geworden. Somit stand fest, der Maestro würde ein letztes Mal vor seinem Orchester stehen, diese furiose Musik dirigieren, und direkt danach wollten sie sich auf den Weg machen. Sie waren in Berlin gewesen. Ulf hatte versucht, im Kulturministerium, wenn schon nicht mit dem Minister, so doch mit einem Stellvertreter in Kontakt zu kommen. Hatte er wirklich geglaubt, man würde ihn einfach so vor-lassen, ihn anhören? Ob er einen Termin habe? Wen er denn sprechen wolle? Sie brauche einen Namen. Nein, Dr. Correns sei nicht zu sprechen, der habe auch sein Büro nicht in diesem Gebäude, da müsse er drei Häuser weiter gehen. Links? Nein, nach rechts. Die Dame am Empfang war höflich, aber eiskalt. Gab es einen Mann, der sich an der abarbeiten wollte? Ulf war sauer, mehr auf sich. So naiv kannte er sich doch gar nicht. Aber dieser verdammte Fluchtversuch steckte ihm noch in den Knochen. Verfolgte ihn. Er sieht sich im Matsch wühlen, sieht sein Auto versinken. Steht jeden Tag unter der Dusche, dem kalten Strahl, glaubt, den Schlamm nicht mehr vom Körper zu kriegen. Er schaut auf seine Hände, dreht sie hin und her. Die Nägel sind sauber, aber dieses Gefühl, eingekratzter Schlamm, trocken und hart, wie volle Schaufeln. Er knetet Fäuste, Lehm. Elfi flüstert: „Was hast du? Ist was mit deinen Händen?“ Er schüttelt den Kopf, legt seine saubere Hand auf die ihre und lächelt gequält. Die Reihen der Klappsitze scheinen sich zu verschieben. Seine Gedanken überstürzen sich. Darf ich?“ Klappsitz hoch. Die Reihe füllt sich. Danke.“ Noch jemand? – Nein. Klappsitz runter. Er wollte ihr und auch sich ein erneutes Scheitern ersparen. Deshalb musste er es in Berlin noch einmal versuchen.
Drei Häuser weiter, nach rechts, da, das Messingschild. Nationalrat der Nationalen Front der DDR. Diesmal ein Pförtner. Doktor Correns? Moment bitte ... ist leider nicht im Haus. Kann ich sonst ...? Ein Netter ... Ja, seinen Vertreter? Ein´n Vertreter? Moment bitte ..., ja? Ja, Zimmer 605, dritter Stock, da, der Aufzug ... leider defekt. Die Treppe, den Gang rechts, drei Stockwerke hoch. 605. Klopfen ... Herein! Entschuldigung. Eine Junge, ausnehmend hübsch, gar nicht sozialistisch, fast wie Irma. Irma? Doktor Correns´ Unterschrift, hier, auf dem Schreiben, leider etwas zerknittert. Keine Möglichkeit! Eine Nachricht für ihn? Vielleicht morgen? Nein, morgen leider nicht. Alles umsonst. Scheiße! Mühsames Aufstehen. „Schuldigung“. Wieder Leute, auf den allerletzten Drücker, drücken sich vorbei. Falschrum. Hintern streifen Bäuche, wieder Klappsitz runter halten, für Elfi, Rock glatt streifen, setzen. „Danke.“ Sie streicht ihm die Wange. „Hast du was?“ Kopfschütteln. Nein, nichts. Doch. Musiker klettern auf das Podium wie Käfer. Applaus, verhalten, kleckernd, Unruhe. Die Oboe. Hans bläst den Kammerton ... Alle spielen lange As ..., Dreiklänge, Dur und Moll, Akkorde, Quarten, Sechsten, Oktaven. Zähes Durcheinander. Gefiedel, im Kopf, im Ohr, tönendes Unbehagen. Ich muss raus! Geht nicht, die Reihen gefüllt, ausverkauft, wie immer. Menschen dicht an dicht. Kein Durchkommen, kein Zurück ... Zuschauerraum dunkel, Applaus, der Maestro, laute Bravos, noch lauter, verneigen, verbeugen, stehende Musiker, Zuhörer, wieder Bravos, Applaus verebbt langsam. Allgemeines Setzen, Gemurmel ...Wo ist Frank? Berlin, Staatsoper, ... darf ich fragen ... nicht im Haus ... dürfen keine Adressen herausgeben ... auch nicht an Kollegen? Nein. Probe? Nein, heute keine Probe. Morgen? Nein, auch nicht. Schade. Wieder Scheiße. Die ersten Takte holen ihn zurück. Das Pochen der Pauke, 52 Mal, eingebettet in eine von den Streichinstrumenten intonierte rhythmische Eingangsphrase. Jeder Schlag rüttelt die Zweifel auf. Die Melodie reißt ab mit dem 52. Schlag. Ruhige Holzbläser-Akkorde. Kann ich, können wir`s heute Nacht wagen? Ist es überhaupt zu wagen? Drängende Klänge zum erneuten Forte. Wieder die Pauke, schleichender Geigenklang. Es muss sein, heute müssen wir es wagen. Ein Paukenschlag beendet das Crescendo. Die Oboe folgt weich, versöhnlich. Hans spielt ein kurzes Solo. Schön. Ohne sein Boot wäre ...? Wo hätte er sonst eins her bekommen. Danke, Hans. Der Motor. Danke, Winfried. Vielleicht ist der auch hier? Hans spielt wunderbar. Beruhigend. Der Maestro, er dirigiert ohne Noten, auswendig. Die haben gar kein Pult aufgebaut. So hat Ulf ihn noch nie gesehen, diese zwingende Hingabe, er lebt die Musik. Erneuter Paukenschlag. Das Allegro, es rüttelt auf. Er zwingt sich in die Musik, will für die nächste Stunde alle Fluchtgedanken verbannen. Schließt die Augen. Geigen umschwärmen ihn. Es gibt Tage, da glaubt er, es würde ihm nichts gelingen können. Ist heute so ein Tag? Schwer fühlt er sich in den Sitz gezwängt, als würden Boot und Motor ihn erdrücken, wehende Streicherklänge reißen ihn hoch. Das Più Andante, es bringt neue Hoffnung, bringt Freude, nein, heute durfte kein solcher Tag sein. Wem konnte nur eine solch herrliche Melodie einfallen? Er würde sie die ganze Nacht hindurch singen, immer wieder während der Fahrt, sie würde ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Beim Aufbauen des Bootes, beim Überwinden der Brandung, das Stechpaddel im Einsatz, beim Einhängen und Starten des Motors, auf der Gischt jeder Woge, ins hinabreißende Wellental. Er würde die Gedser Rev, die Freiheit, mit dieser Melodie laut herausschreiend begrüßen.
 

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