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Zwischen
den beiden Weltkriegen gründen Rudl und Gretl eine Familie
und werden,
wie so viele andere ihrer Generation, durch
die Kriegsereignisse
um ihr Glück betrogen.
Doch bringt für sie die Nachkriegszeit mit Flucht, Vertreibung,
Gefangenschaft,
Gefängnis und dem Verlust der Heimat weiter zusätzliches Leid.
Aber erst das Nacherleben all der Ereignisse lässt
das ganze Ausmaß
des
schicksalhaften Verlaufs dieser Tragödie in ihrer Zuspitzung erahnen.
Er stand am
Grab seines Vaters. Hinter ihm, seiner unendlich
trauernden Mutter, seinen drei älteren Geschwistern und dem Großvater
suchten einige aus der Trauergemeinde,
sich reckend, einen Blick auf die trauernde Familie werfen zu können.
Sie waren erst vor gut
zwei Jahren nach Düsseldorf gezogen.
Flüchtlinge aus der SBZ, der sowjetisch besetzten Zone, wie es zu der
Zeit noch hieß.
Im Dezember 1955 hatten sie nach diversen Lageraufenthalten, eine
schöne, große Wohnung im Stadtteil Oberbilk bezogen.
Vor fünf Tagen war der Vater verstorben. Die Mutter hatte immer wieder
den gleichen Satz gestammelt: „Warum musste mein Rudl so sterben?”
Seine wirren Gedanken fanden wieder zu dem, was hier gerade passierte
und suchten, ein trauerndes Gefühl zu finden.
War hier Trost zu geben überhaupt möglich? Konnte er der Mutter, mit
seinen knapp fünfzehn Jahren, Stütze und Hilfe sein,
ihr beistehen,
diesen schweren Verlust zu ertragen? Seine Mutter drängte
jetzt zum offenen Grab, um die mitgebrachten Blumen,
die sie krampfhaft in
ihren Händen hielt, hineinwerfen zu können. Am
Abgrund stoppte sie. Die Blumen plumpsten hinein.
Mit der kleinen Schaufel warf er etwas Sand auf den Sarg. Warum nur
konnte sich in seinen Gedanken keine Trauer finden?
Warum wurde ihm hier, am Grabe seines Vaters ... ? Hatte er überhaupt
einen Vater gehabt?
Einen Großvater hatte er nicht, ihn würde er wohl nicht wiedersehen.
Hatte er seinen Vater gekannt? Der Krieg und eine
willkürliche
Gerichtsbarkeit hatten ihm den Vater geraubt.
Zu zwölf Jahren war er verurteilt worden, bis 1961 hätte er gesessen.
Die Erinnerung an den Besuch im Gefängnis 1951 drängte sich ihm auf. Da
war er noch keine acht Jahre alt gewesen.
Erst im Dezember 1954 hatte er ihn wiedergesehen. Von den folgenden drei
Jahren, die sie gemeinsam verbracht hatten,
zunächst in der DDR, dann nach der Flucht in den Westen in den
Flüchtlingslagern und schließlich hier in der neuen Wohnung –
was war davon geblieben? Hatten sie einander finden können? Gab es eine
Vater – Sohn – Beziehung?
Und heute, am 2. April 1958, lag der
Vater hier vor ihm tot im Sarg. Verstohlen schaute er um sich.
Die meisten der Umstehenden kannte er. Und sie kannten ihn. Wo war
seine Trauer?
Konnte man ihm vielleicht ansehen, dass
seine Gedanken ständig umherirrten?
Würde sich mancher hier
vielleicht fragen, hat der seinen Vater so wenig geliebt? Fühlt er denn
nicht
mit
seiner Mutter, die mit 47 Jahren, 13 Jahre nach Kriegsende, noch zur
Kriegerwitwe geworden war?
Oder war er zu unreif, das Ausmaß dieser Tragödie zu erfassen?
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