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Das
Hochzeitsgeläut begann zaghaft.
Zunächst mit drei unregelmäßigen Anschlägen,
bis der Klöppel der ersten Glocke
in regelmäßigem Schwung den Rand gegenüber
erreichte, und das sorgfältig
im Guss abgestimmte Metall zum Klingen
brachte. Er wartete auf seine Braut.
Es war endlich so weit. Heute war ihr
Hochzeitstag! Mittwoch, der 30. September 1936.
Rudl stand im Eingang unter dem Turm, spürte
das Stampfen im Glockenstuhl und überließ sich ganz dem
Klanggebilde.
Mal erklangen zwei oder drei Glocken rhythmisch gleich im Anschlag, dann dissonant, um schnell wieder
nach mäßigem
Durcheinander zur vollen Harmonik zu finden. Ähnlich der Verbindung zweier Menschen, die
zunächst im Gleichklang beginnend,
sich in Unregelmäßigkeit
und Unordnung, ja sogar in Misstönen und Disharmonie verlieren, um dann
durch das
Anschlagen neuer
Töne,
und durch das Erkennen von Dissonanzen die ersehnte Harmonie wieder zu
erlangen.
Da es keinen Brautvater gab,
der ihm seine Braut hätte zuführen können,
erschien Schwester Friedeswida auf der
Eingangstreppe, winkte ihm
fröhlich zu
und zog Gretl aus der Tür, gleich einem kostbaren Brillanten
aus einem Safe.
In dem langen, den Boden berührenden weißen Kleid,
einer kleinen weißen
Kappe mit langem Schleier in das gekräuselte,
dunkle Haar drapiert, schritt sie die Stufen hinab ihm entgegen.
Ihre Schuhe waren nicht zu sehen, sie hatte flache und er etwas erhöhte,
da er nun mal einige Zentimeter kleiner war.
Überwältigt von ihrer Erscheinung ging er ihr, mit den leicht erhöhten
Absätzen vielleicht etwas ungelenk entgegen,
sodass sie
in der Mitte des Vorplatzes zusammentrafen. Er hatte selbstverständlich einen Frack
angelegt,
und so verschmolzen sie zu einem klassischen Hochzeitspaar.
„Du siehst hinreißend aus”, brachte er
benommen hervor. Sie strahlte ihm ihr schönstes Lächeln entgegen.
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Er hatte seine Stelle als Brennereiverwalter.
Allerdings nicht in Schwarzengrund, sondern in Alt-Ellguth, einem kleinen Flecken
40 km östlich von
Breslau. Dort waren sie dabei, im Parterre des Wohngebäudes der
Brennerei, ihre Wohnung einzurichten.
Für Agnes fand sich
leider kein Platz.
Die Wohnung wäre doch keine Verbesserung für sie, mit einer Pumpe in der
Küche.
Sie hatte ja wenigstens einen Wasserhahn, und dann auf einem solchen
Kuhdorf,
wenn Rudl ihr
nichts Besseres bieten könne!
Nun, er hatte ja die Option nach
Schwarzengrund zu wechseln. Ob das bald geschähe, würde sich vielleicht
heute zeigen.
Auf dem alten Straßenschild stand noch Koppitz. Bedachtsam ließ er das Motorrad durch die noch
unbefestigte Straße rollen.
Koppitz hieß jetzt Schwarzengrund. Die Nationalsozialisten hatten alle slawischen
Ortsnamen „eingedeutschtˮ.
Es war ein wunderbarer Oktobertag, Gretl wandte sich dem See zu, Rudl
dem Schloss: „In ner halb´n Stunde vielleicht,
oder es kann auch länger dauern”, rief er ihr nach. Wie von selbst
öffnete sich die schwere Eingangspforte.
Ein junger, stattlicher Mann kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand:
„Ich bin Graf Schaffgotsch und freue mich,
Sie endlich kennenzulernen. Ja, ich suche händeringend einen neuen Chef
für meine Brennerei. Sie scheinen
dafür der Richtige zu sein. Ihre Zeugnisse habe ich eingesehen. Jedoch
gibt es da ein Problem, das wir lösen müssen.”
Er wisse, was er von ihm verlange, fuhr der Graf fort, aber die erste
Voraussetzung wäre, er müsse in die Partei eintreten.
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