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Das dreigeschossige
Haus von Tante Martel und Onkel Florian, in Glatz
bot inzwischen auch Gretl, den Kindern und Agnes Zuflucht. Jedoch war in
der Grafschaft Glatz,
mit zigtausenden von Flüchtlingen aus Ober- und jetzt auch
Niederschlesien völlig überlaufen,
die Versorgungslage katastrophal. Die Hauptkampflinie verlief nördlich,
die nahe Tschechei
machte ein Vordringen der Roten Armee nach Süden überflüssig.
Trotzdem traf es die Einheimischen und Flüchtenden besonders hart, da
Glatz, zwischen den Fronten befindlich,
von allen Verkehrs- und Versorgungslinien abgeschnitten war. Auf dem
Land war die Lage erträglicher.
Die letzten Apriltage kündigten trotz des nicht enden wollenden Krieges
den Wonnemonat 1945 in seinen schönsten Blüten und Farben an
und machten vielleicht Not, Hunger, Enge und Entbehrung ein wenig
erträglicher. Das ungemütliche Aprilwetter hatte an Ulis und Hannchens
Geburtstag sein Ende gefunden. Uli, als Kleinster, wurde zwei Jahre und
Hannchen, die älteste Tochter von Hedel, fünfzehn.
Der 29. April war ein sonniger, warmer Sonntag. Für die Geburtstagsfeier
wurde alles hergerichtet, und weil Jutti am 1. Mai vier wurde,
sollte ihr Geburtstag gleich mitgefeiert werden. Wer wusste schon, ob
man in zwei Tagen nochmal feiern konnte.
Zwei Mütter, zwei Omas und ein Opa freuten sich am Wohnzimmertisch
sitzend über die Freude ihrer 8 Kinder, ihrer Enkel, eine so festliche
Feier erleben zu dürfen. Die drei Geburtstagskinder saßen um das
Kopfende des mit einer weißen Decke verhüllten Brettes, jeder Platz mit
Papiergirlanden geschmückt. Die „Muckefucktorte”, ein Gemeinschaftswerk
beider Omas, kreiert aus zwei Tassen Kaffeesatz, Mehl,
Backpulver,
Zucker, Margarine, Eiern, dazu einer Füllung aus Vanillepudding, eine
dünne Schicht Johannisbeermarmelade darunter.
Mit Puderzucker bestäubt wirkte die Torte auf die Kinderaugen wie ein
wunderbar weißer Zuckerberg. Florian hatte den Volksempfänger
eingeschaltet, und es erklang ein krächzender Wiener Walzer, zu dem sich
Gretl wiegend auf dem Polsterstuhl hin und her bewegte.
Plötzlich wurde der Walzer durch das Fanfarensignal aus „Les Préludes”
von Liszt unterbrochen, das den Wehrmachtsbericht ankündigte,
und Florian schimpfte: „Kann man denn nich in Ruhe feiern, ohne von
dieser Propaganda gestört zu werd´n?”
Es wurde eine wichtige Sondermeldung angekündigt: „Unser
geliebter Führer hat soeben in seinem Hauptquartier in Berlin seine
Braut,
Eva Braun, geehelicht. Wir und das ganze Deutsche Volk wollen ihn dazu
beglückwünschen. Möge dem Paar eine glückliche Zukunft
beschieden sein.”
Florian holte tief Luft: „Hört euch das an, dieser ...” Martel
unterbrach seinen Groll: „Bisde jetz ruhich, Florian!”
„Der Führer selbst lässt verkünden”,
tönte es weiter aus dem Lautsprecher, „er wolle in diesen schweren
Zeiten mit seiner Heirat ein Zeichen
der Liebe und Treue zu seiner
Angetrauten, seinem Volk und seinem geliebten Vaterland geben und
gleichzeitig allen seine Hoffnung
auf ein Erstarken unserer stolzen
Nation und auf das Erringen des nahen Endsieges kundtun!” Florian war
jetzt nicht mehr zu bremsen:
„Dieser Verbrecher! Dieses heuchlerische Schwein, mit sein´n
Parol´n hat der uns alle paralysiert, uns belog´n,
dies´n Krieg und unsern sich´ren Untergang vom
Zaun gebroch´n, unsre Söhne in den Tod ...”
Martel war zu ihm geeilt, und zischte: „Se wer´n dich
hol´n, dich verhaft´n, die Gestapo, überall ham se Ohr´n!”
„Ich hab´s doch
immer gesagt, alles Verbrecher, soll´n die mich doch hol´n, ich halt das
nich mehr aus!”
Damit verließ er, die Tür
zuschlagend, das Zimmer. Einen Tag später verübten Hitler und Eva Braun
Selbstmord.
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