Seine Abendration wurde geräuschvoll auf die Klappe geschoben, und eine laute Tirade,
weil er auf der Pritsche gelegen hatte, folgte. „Sein” Wärter war heute nicht da, das wusste er,
deshalb gab es auch keinen Hofgang. Er sprang auf, klappte das Brett herunter, nahm den Blechteller und den heißen Becher.
Aber er hatte keinen Appetit. Appetit, er verzog das Gesicht, betrachtete sein „Mahl”, wie sollte man auf so etwas Appetit bekommen?
Er aß trotzdem. Er musste essen. Seit einiger Zeit plagten ihn Magenprobleme. Seine depressiven Phasen schlugen ihm sicher auf den Magen.
Sein Blick fiel auf den Eimer. „Scheiß Eimer!”, fuhr er den an. Er war versucht, einmal kräftig dagegen zu treten.
„Ja, ich muss hier diese ganze Scheiße öfter mal rausschreien!” Erschrocken stellte er schnell Teller und Becher auf die Klappe,
sie war noch geöffnet. Der Ausbruch musste in den Treppenaufgängen prächtigen Widerhall gefunden haben.
Eines Abends, nach einem Hofgang, es war schon mächtig kalt geworden, Rudl fror ein wenig, wagte er den Wärter zu fragen,
warum sich in seiner Sache überhaupt nichts mehr tat. „Großer Prozess mit Deutschen”, flüsterte er und schob Rudl in die Zelle.
„Feldeisen?”, fragte Rudl. Der Wärter nickte, und die Tür krachte vor seiner Nase zu.
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Evi hatte erst jetzt bemerkt, dass hinter der Mauer große dunkle Häuser mit vergitterten Fenstern waren. Der Posten stand noch immer drohend
vor dem Tor. Gretl schob Evi ungeduldig weiter, sie strebte zur Mauerecke, um für den Posten nicht mehr sichtbar zu sein. Jetzt standen sie
an der Nordseite des Gefängniskomplexes. Auf der Ecke der Mauer thronte ein kleiner Wachturm, rundum mit Fenstern ausgestattet, auf dessen
Umgang zwei Posten patrouillierten. Verängstigt wechselten sie abermals die Straßenseite. Evi war jetzt auch von der Vorstellung ergriffen,
dass hinter diesen Mauern ihr Vati leben musste, und Gretl glaubte, magisch seine Nähe zu spüren. Wenn sie ganz fest an ihn dachte, würde er
ihre Nähe dann auch empfinden? Sie hatte einmal etwas über Telepathie gelesen. Gab es so etwas? Sie wollte daran glauben.
Sie kauerte sich zu Evi. Beide Köpfe, Augen, Sinne waren jetzt auf gleicher Höhe, und sie flüsterte: „Ewerle, wenn wir beide jetzt ganz fest
an unsern Vati denken, vielleicht überwinden wir diese Mauern, und er spürt, dass wir hier sind.”
Sie harrten lange aus, und keine wollte die Verbindung, die jede für sich zu empfinden glaubte, als Erste unterbrechen.
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Er saß hinter diesen Mauern. Auf seiner Pritsche in neu entfachter Angst um sein Schicksal. Sie machten Feldeisen den Prozess, das hieß,
der würde, um sich zu entlasten, bei den Anschuldigungen bleiben. Er hatte Rudl beschuldigt, Sabotage zu betreiben, in dem er in die
Schmierstellen der Maschinen Sand streuen wollte. Und wenn es erst einmal zur Anklage gegen ihn käme, gab es kein Entrinnen. Sie ließen
  ja keinen Verteidiger zu. Und wenn sie mit Feldeisen fertig wären, würde er an die Reihe kommen. Sabotage, Spionage, zwei Vergehen,
   ob man sie begangen hatte oder nicht, kam man einmal damit in Verdacht – Todesstrafe! Er wunderte sich.
     Blieb er nicht merkwürdig ruhig? Erregte ihn die Tatsache nur noch so wenig, dass bald auch über ihn das Urteil gesprochen würde?
      Er fühlte sich plötzlich nicht allein, glaubte eine Geborgenheit zu spüren. Einsamkeit, Angst und Verzagtheit wichen.
        Sollen sie ihn doch verurteilen. Seine Familie würde immer an seine Unschuld glauben, vielleicht würden sie sie sogar einmal
           beweisen können. Er lauschte in die Stille, es war ein kalter Dezembertag. Gestern noch war er im Hof gewesen.
             Er schaute zum Fenster, es war unerreichbar.


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